Grusswort: Peter Bichsel

Nation, das ist ein grosses Wort, ein pathetisches, ein überall und immer wieder missbrauchtes Wort. Wie schnell wird es zum Bekenntnis, zur Glaubensfrage, zur Religion und wie viele Menschen werden im Namen der Nationen verfolgt? Wo Nationalmann-schaften zusammenkommen, braucht es Millionen, um die Sicherheit einigermassen zu gewährleisten. Chor der Nationen, das ist ein Traum. Es war der Traum des Völkerbunds vor dem Krieg, der Traum der UNO, der vereinigten Nationen, nach dem Krieg und in den vielen nationalen und internationalen Kriegen.

Nation, das ist ein grosses Wort. Der wirklich singende „Chor der Nationen“ meint etwas viel Kleineres, er meint nur das Zusammensein, das Zusammengehören. Musik ist zwar kein Argument, und es gibt auch die Lieder der Bösen und Inhumanen, und ein Volk, das Symphonien hat, hat noch lange nicht Kultur, wie Max Frisch geschrieben hat. Ein Volk, das Fussball hat, ein Volk, das Lieder hat, ist noch lange nicht ein friedliches.

Und selbst in dem guten Begriff Integration sind mehr und mehr feindliche Töne auszumachen. „Die sollen nun endlich Deutsch lernen“, das klingt aus den Kehlen einzelner Politiker wie die Forderung nach Strafaufgaben. Und mit wem sollen sie dann reden, wenn sie es können? Etwa mit uns? Es gibt keine einseitige Integration. Wer Integration wünscht, der hat integrationsbereit zu sein. Sprachen lernen ist etwas Schönes, aber es sollte nicht die Voraussetzung zur Integration sein, sondern ihre Folge. Junge Türken, junge Kosovo-Albaner erleben es schmerzlich: Sie sprechen dieselbe Mundart wie wir und haben unter sich zu bleiben.

Wenn ich, damals als kleines Kind, mit meinem Grossvater, mit meiner Mutter gesungen habe, dann waren wir gleich. Da waren wir beide Kinder, da waren wir beide Menschen. Da erlebte ich Integration, da gehörte ich dazu. Nicht nur die Fremden haben es zu lernen, sondern alle.

Der „Chor der Nationen“ hat zwar einen grossen Namen, und er erinnert damit an das vielfache Scheitern der Grossen. Aber er meint etwas Kleines, das Zusammensein. Das Zusammensein auch vor dem Gleich-sein und vor dem Gleich-sprechen. Und weil er das Kleine meint, ist er eine Hoffnung, eine kleine Hoffnung. Dafür danke ich.

Peter Bichsel